Georg Peter Wilhelm als Orgelgestalter

Gedanken zur Bedeutung der Oberkaufunger Orgel
Festschrift zur Orgelweihe 2019

von Kilian Gottwald

Wenn die Orgel der Stiftskirche Oberkaufungen jetzt wieder in Gottesdienst und Konzert erklingen kann, so ist ein bedeutendes Zeugnis nordhessischen Barockorgelbaues und zugleich ein ausgezeichnetes Beispiel der technischen und klanglichen Meisterschaft Georg Peter Wilhelms neu zum Leben erweckt.

Was sind nun die typischen Merkmale der Instrumente dieses Meisters und worin liegen die Besonderheiten gerade dieser Orgel?
Die Ausbildung bei Hermann Peter Dibelius und offenbar solide musikalische Kenntnisse, die sogar eine Berufung zum Stadtorganisten ermöglichten, dürften die Basis gewesen sein, auf der Wilhelm sein Instrumentenkonzept entwickelte, welches klangliche Vielfalt und Leistungsfähigkeit mit der Möglichkeit der Anpassung an verschiedene Raumsituationen ausgezeichnet verbindet. Gleichzeitig zeigen seine noch klar spätbarocken Dispositionen bereits Wege in eine musikalische Zukunft, auf denen dann die zahlreichen Nachkommen mit überraschender Kontinuität weiterschreiten konnten.

Georg Peter Wilhelm-Cover

Eine sorgfältig vergleichende Untersuchung insbesondere klanglicher Parameter der Wilhelm-Orgeln bleibt Aufgabe, dennoch kann die konzeptionelle Idee folgendermaßen umrissen werden:
Am häufigsten gebaut und erhalten ist eine Art Grundtypus der einmanualigen 4‘-Orgel mit selbständigem Pedal und folgender Disposition: Drei in Klangfarbe und Lautstärke deutlich differenzierte 8‘-Stimmen (Gedackt, Quintatön, Gambe) bilden die Basis. Charakteristisch für das Gedackt sind kräftig intonierte, hölzerne Basspfeifen, eine zum Diskant hin eleganter werdende Mensur der sich anschließenden Metallpfeifen und die ungewöhnlicherweise konisch offene letzte Oktave. Quintatön und Gambe sind meist in der tiefen Lage zusammengeführt, wobei Wilhelm dort sehr gekonnt quintig intonierte Holzpfeifen verwendet. Die Gambe besitzt wenige oder überhauptkeine Kernstiche und auch nur sparsam Seitenbärte, offenbar zugunsten besonders charakteristisch zirpenden Streicherklanges. Zum 4‘-Prospektprinzipal tritt eine gedackte Flöte, die in Mensur und Bauweise völlig dem Gedackt 8‘ entspricht, also ebenfalls konische Diskantpfeifen besitzt. Die 2‘-Lage besetzte Wilhelm oft ebenfalls doppelt, wobei hier neben der Octave als Weitchorstimme zum dritten Mal die unveränderte Mensur des Gedackt verwendet wird. Diese kleine Flöte mit dem Namen Flageolet ist also in den tiefsten etwa 1 ½ Oktaven gedackt und dann konisch offen. Die identische Bauform in drei Tonhöhen und mit dreierlei Namen ergibt übrigens einen Flötenchor von seltener Frische und Homogenität!

Einzelaliquoten verwendet Wilhelm kaum, stets jedoch einen Diskant-Sesquialter, der mitunter erst bei d1 beginnt. In einem Kostenvoranschlag (Mengsberg) ist dessen Aufgabe schön beschreiben: „zum Vorspielen des cantus firmus“. Mixtur, Subbass und Octavbass entsprechen den allgemein üblichen Gepflogenheiten. Sind für das Pedal Holzpfeifen selbstverständlich, so verwendet Wilhelm sie, ganz im Gegensatz etwa zu seinem Zeitgenossen Stefan Heeren, ansonsten eher sparsam. Seine Metallpfeifen erkennt man an einer ganz flachen Kernfase mit senkrechter Gegenfase und an den nur in der Mitte und nicht wie üblich über die ganze Länge angelöteten Seitenbärten. Nicht nur im Flötenchor, sondern auch für die Prinzipale einschließlich Sesquialter scheint Wilhelm eine Art Einheitsmensur benutzt zu haben.

Und mit diesen Pfeifenmaßen lag er so gut in einer gedachten klanglichen Mitte, dass sie offenbar ohne wesentliche Änderungen in einer kleinen Kapelle ebenso wie in Großräumen anwendbar waren. Die erhaltenen Orgeln zeigen, dass ihr Registerfundus keineswegs nur für die Musik der Entstehungszeit, sondern auch für unsere aktuelle Musizierpraxis erstaunlich viele Möglichkeiten bereithält: Kraft, Eleganz, Fülle, Homogenität, Glanz, Sanftheit, Durchsichtigkeit - alle diese Klangfarben stehen zur Verfügung. Die Prospektform schließlich, die Wilhelm für seine Orgeln gefunden hat, konnte er mit vergleichsweise geringen Veränderungen des Dekors im Rokokogeschmack, aber auch vorausweisend klassizistisch anbieten. Seine Profilquerschnitte musste er dazu in der Regel nicht verändern.

Folgende Variationsmöglichkeiten erlaubte nun dieses Grundkonzept: Eine Verkleinerung wie etwa für die Schlosskapelle Escheberg war durch den Wegfall des selbständigen Pedals und der Mixtur möglich, den Sesquialter behielt Wilhelm interessanterweise bei. Das weite Gedackt bildet auch ohne Subbass über die Pedalkoppel eine füllige Grundlage. Raffiniert ließ sich die bewährte technische Anlage ohne Änderung der Registermechanik so umgestalten, dass der Spieltisch in die Orgelrückwand eingebaut werden konnte. Dass Wilhelm in der Lage war, auch eine originelle Kleinstform, die jüngst restaurierte sogenannte Wasserorgel im Schlosspark Wilhelmshöhe, zu realisieren und ein noch heute in der Löwenburgkapelle aufgestelltes älteres Orgelpositiv mit seinen typischen Metallpfeifen der Gedacktfamilie ausstattete, sei hier nebenbei erwähnt.

Für den Riesenraum der Kaufunger Stiftskirche war demgegenüber eine bedeutende Vergrößerung des Konzeptes erforderlich. Mehrere Möglichkeiten boten sich an: Die ehrwürdige Scherer-Orgel der Kasseler Martinskirche besaß zu Wilhelms Zeit wohl noch ihr Rückpositiv, doch diese Form des Nebenmanuals wurden im nordhessischen Raum so gut wie nirgends mehr gebaut. Für ein Oberwerk, wie es der berühmte Gottfried Silbermann häufig verwendete, war ausreichend Höhe vorhanden, es hätte jedoch eine erheblich andere Trakturführung und eine aufwendigere Gehäusestatik erfordert. Die Familien Stumm und Schöler statteten ihre seitenspieligen Brüstungsorgeln gerne mit Unterwerken aus. Bei Johann Marcus Oestreich findet man sehr breite Orgelanlagen mit einem geteilten Hauptwerk, welches das kleine Positiv in die Mitte nimmt.

Ähnlich ging Wilhelm vor, beließ aber das große Hauptwerk zugunsten einer kürzeren Mechanik in der Mitte und fügte das diatonisch geteilte zweite Manualwerk sozusagen als Seitenpositiv rechts und links außen an. Angesichts der Raumdimension war das tatsächlich die optimale Anordnung, zumal keine Veränderung der Prospektform, sondern lediglich deren seitliche Erweiterung nötig wurde. Jetzt war noch die „Normaldisposition“ musikalisch sinnvoll auf die beiden Manualwerke zu verteilen und um geeignete Stimmen für größere Klangkraft und Farbigkeit zu vermehren, und auf ebenso elegante wie gekonnte Weise war eine zweimanualige Großform gefunden. Klanglich sind neben der tieferen Basis mit Bordun 16‘ und Principal 8‘ besonders auffallend das Hinzutreten einer Trompete und einer offenen hölzernen Flöte im Hauptwerk, die bei Wilhelms Nachkommen zum unverzichtbaren Standardregister werden sollte. Eine reichliche Pedalbesetzung von 16‘ bis 4‘ mit offenem Violon und Posaune sorgt für ein beeindruckendes Fundament.

Gerne wüsste man, wo sich Wilhelm die Kenntnisse des Zungenstimmenbaues angeeignet hat, denn die original erhaltene Posaune beweist großes Können. Die Zungenstimmen in der Martinskirche hat er sicherlich genau gekannt.

Man kann also sagen, dass Wilhelm mit seinen stets beibehaltenen Grundmensuren, seinem bewährten technischen Konzept und einer hochwertigen Bauweise in der Tat auf die Erfordernisse unterschiedlichster Räume glücklich einzugehen in der Lage gewesen ist. Seine ausgereiften Instrumente besitzen im Ganzen und im Detail einen unverwechselbaren Charakter, dessen musikalische Sprache noch heute die Hörer zu bewegen vermag. Die Oberkaufunger Orgel ist darüberhinaus wohl das größte und am besten erhaltene zweimanualige Instrument Georg Peter Wilhelms, in welchem sogar eine Zungenstimme die Zeiten überdauert hat, und wird dank der umsichtigen Restaurierung durch die Firma Jehmlich noch vielen Generationen zur musikalischen Erbauung dienen.


(Für wichtige Hinweise sei Herrn Prof. Dr. Gerd Aumüller, Münchhausen, herzlich gedankt.)

Kilian Gottwald · Orgelbaumeister · Karlstraße 6 · 35287 Amöneburg
Tel.: 06422-890789 · Mobil: 01525-4660132 · E-Mail: kiliangottwald@web.de

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