Die Intonation

Vom Handwerk zur Kunst

von Kilian Gottwald

Intonation nennt der Fachjargon des Orgelbaus die „Inklangsetzung“ des Instruments. Aufgabe des Intonateurs ist es, die aus stummer Materie gefertigten Orgelpfeifen zum Klingen zu bringen und so den typischen Orgelklang zu kreieren. Die Intonation einer neuen Orgel ist somit der letzte Schritt ihres Werdegangs, sie ist ihre Vollendung. Denn erst jetzt wird aus dem aufwendig erstellten Werk ein Musikinstrument. Erfahrung, Geduld und Können sind selbstverständliche Voraussetzungen dafür. Der Intonateur beschreitet bei seiner Arbeit einen Weg, der nur zu einem gewissen Teil wirklich planbar und voraussehbar ist.

Georg Peter Wilhelm-Cover

Die Klangidee der neuen Hauptorgel für die Wiblinger Basilika ist zunächst von der süddeutsch-barocken Stilistik her angelegt. Zugleich soll das Instrument weit darüber hinaus gehende Erwartungen erfüllen, wie sie heute bei dieser Orgelgröße zu stellen sind. Dazu gehören vor allem eine deutlich erweiterte Klangfülle und Klangvielfalt in allen Lagen bei stets zuverlässiger Ansprachequalität. Ist dieses selbstverständlich schon in der grundsätzlichen Klangplanung durch die Festlegung der Pfeifenformen und -Maße sorgfältig berücksichtigt, so gibt es bei der Realisierung einen ganz erheblichen Spielraum. 

Es sind ja für jede einzelne der weit über 3000 Pfeifen Lautstärke, Klangfarbe und Ansprache zu finden und zu fixieren. Dabei müssen immer mehrere Aspekte berücksichtigt werden, wie z.B. die Wirkung als Einzelfarbe, die Mischfähigkeit usw. Dazu sind zunächst eine ganze Reihe handwerklicher Bearbeitungsschritte erforderlich, die alle schon auf den zukünftigen Klang hin auszuführen sind. Für die Wiblinger Orgel wurden diese Arbeitsgänge so geplant, dass ein gewisser Teil der eher stillen, sogenannten Grundstimmen und die meisten spezielleren Farbregister bereits in der Werkstatt vorläufig zum Klingen gebracht wurden. Zur Gewinnung einer zentralen, leuchtenden Klarheit der sogenannten Principalregister haben wir diese Stimmen demgegenüber fast völlig unbehandelt in die Kirche verbracht. Auch die überaus farbigen und markanten Zungenregister, deren Pfeifen eine recht diffizile Bauart besitzen, werden entgegen dem üblichen Verfahren ebenfalls vollständig in der Kirche intoniert.

Dieser mit nicht geringem Aufwand verbundene Weg gibt dem Intonateur ein hohes Maß an künstlerisch-musikalischer Freiheit. Mit seiner in vielen Jahrzehnten erworbenen Erfahrung kann er unmittelbar, gelöst und neugierig auf den Raum reagieren und auf diese Weise ein gleichermaßen anregendes wie in sich ausgewogenes Instrument erschaffen. Der neue Klang genau dieser Orgel soll ja nicht eine Sammlung von Zitaten oder eine Aneinanderreihung von Nachahmungen sein, sondern eine originäre Schöpfung. Die stilistische Bandbreite erweitert sich durch eine gesunde, sozusagen gelassen ruhende Klanglichkeit dabei besser als durch das möglichst präzise Einhalten der Klangregeln aus der Orgelhistorie. Deren genaue Kenntnis, wie überhaupt die intensive Beschäftigung mit der großartigen Orgelkunst unserer Vorfahren, sind allerdings eine unerläßliche Voraussetzung für ein intuitives Vorgehen bei einer solchen Orgelintonation.

Neben dem ständigen Austausch mit Organistinnen und Organisten hilft mir die jahrzehntelange Beschäftigung mit der menschlichen Stimme als Chorleiter, Sänger und Gesanglehrer bei dieser schönen Arbeit sehr, vielleicht sogar mehr als das eigene Orgelspiel. Gerade Stimmen, deren sorgfältige Ausbildung nicht gegen, sondern basierend auf den physiologischen Voraussetzungen eines Sängers oder einer Sängerin erfolgte, besitzen häufig eine erstaunliche Vielseitigkeit. Die Ausgewogenheit zwischen Grundton, Vokalformanten, Eigentimbre und stimmlicher Brillanz halte ich für ein ausgezeichnetes Vorbild für den großen Orgelklang. Die charaktervolle Ausarbeitung jeder Einzelfarbe kann auf dieser Grundlage umso besser gelingen. Die Wiblinger Orgel besitzt übrigens auch eine „Vox humana“, ein Zungenregister, dessen Klang sich auf die menschliche Stimme bezieht und dessen Bauweise mit Edelholzbechern wir speziell für Wiblingen entwickelt haben.

Wenn dieses neue Instrument für das große Spektrum der Orgelliteratur die gleichen Chancen und spannungsreichen klanglichen Entdeckungen bereithält wie für das phantasievolle Improvisieren in Gottesdienst und Konzert, so werden diese Bemühungen ihr Ziel erreicht haben.

Kilian Gottwald · Orgelbaumeister · Karlstraße 6 · 35287 Amöneburg
Tel.: 06422-890789 · Mobil: 01525-4660132 · E-Mail: kiliangottwald@web.de

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